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Von göttlichen Augen und menschlichem Irren

Von göttlichen Augen und menschlichem Irren

Von göttlichen Augen und menschlichem Irren

Als Steward Brand, der später als Initiator und Herausgeber des „Whole Earth Catalogue“ nicht nur in der amerikanischen Gegenkultur zu großer Berühmtheit gelangte (Steve Jobs bezeichnete den Katalog als „Bibel seiner Generation“ und Vorläufer von Google im Paperback-Format), im Jahre 1966 Ansteck-Buttons mit der Aufschrift: „Why haven‘t we seen a photograph of the whole Earth yet?!“ produzierte und neben dem Verkauf derselben auch einen Teil davon an die Senatoren und wichtigsten Institutionen Amerikas und der damaligen Sowjetunion schickte, hatte er nichts geringeres als den Versuch einer globalen Bewusstseinsveränderung im Kopf.Buckminster Fuller hatte in seiner „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“ beschrieben, dass Inselbewohner eine sehr präzise Vorstellung von der Begrenztheit der Ressourcen ihres Lebensraumes hätten, und für Brand war das Veröffentlichen des Fotos der Erde, von der NASA vom Weltall aus geschossen, der Schlüssel zur Wahrnehmung unseres globalen Inseldaseins und somit ein Schritt der Menschheit in ihre Verantwortung als Teil eines gigantischen Ökosystems: laut Bucky sind wir alle Raumfahrer auf diesem fragilen blaue Planeten, umgeben von einem unendlich wirkenden Weltraum.
Für uns heutige Generation ist die Schlagkraft, die dieses Foto zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung hatte, nicht mehr in seiner Dimension begreifbar, es ist heute für jedermann, sofern installiert, in seiner alltäglichen Verfügbarkeit nur noch einen Mausklick entfernt: Es ist das Einstiegsbild zu Google Earth.
Von Steward Brands Forderung zur Erfindung von Google Earth war es kein kleiner Schritt, aber beide eint die Suche nach einem Werkzeug und einer Strategie zum Verständnis der Komplexität und Einheit der Welt. Doch während das erste Bild der Erde seine gesamte Wirkung sofort entfachen konnte und die Einheit des gesamten Biosystems Erde beim
Betrachten mit einem Mal bewusst wurde, beobachten wir bei Google Earth das umgekehrte Phänomen. Das kleine Bild dieses Globus auf unserem Bildschirm verschleiert die Ungeheuerlichkeit, dass das Programm einen großen Teil der Vielfalt hinter der Einheit am Ende aller Zoomstufen abbilden kann.
Alles, was menschliche Geschichte (mit Ausnahme der bemannten und unbemannten Raumfahrt) war, fand auf diesem Globus statt, und beinahe alles, was momentan auf diesem Globus einen materiellen Abdruck bestimmter Größe hinterlässt, ist – sofern es von einem Satelliten und seinem Zoom erfasst werden kann – auch auf Google Earth.

Wie kaum ein anderes Medium erlaubt es uns den Blick auf die Welt, der vormals den Göttern vorbehalten schien, ein Umstand, der die Gruppe The Glue Society zu ihrem Werk GOD´S EYE VIEW inspirierte, bei dem sie vier biblische Momente als Satellitenaufnahme in der Ästhetik von Google Earth darstellten: Den Garten Eden, die Arche Noah, Moses´s Teilung des Roten Meeres, die Kreuzigung von Jesus Christus. Doch der Blick von oben ist ein trügerischer; er erinnert an jenen entrückten Blick vom damals noch stehenden World Trade Center, den Michel de Certeau in seiner „Kunst des Handelns“ beschrieb: „Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen und endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man „besessen“ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen oder gnostischen Triebes. Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.“ (Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Merve Verlag, S.180)

Medeis eisito ageometrikos. „Es trete niemand hier ein, der nicht der Geometrie kundig ist.“ soll der Leitspruch am Eingang von Platons Akademie gelautet haben, und mit dem Wissen der Geometer im platonischen Sinne können wir die Muster zu entziffern versuchen, die sich vor unseren Augen auftun.
Wir schauen auf China und sehen im welthistorischen Moment des Highspeed-Urbanismus die größte und schnellste Transformation von Millionen von agrarisch geschulten Landbewohnern zu in Fabriken arbeitenden Städtern im Namen des Staatsinteresses, und die bedingungslose Adaption von Formen der Avantgarde der Architektur und des Städtebaus des 20. Jahrhunderts ohne ihren vormals gesellschaftskritischen Inhalt. Bereits aus der Ferne sehen wir Dubais enorme Anstrengungen, um die Frage „Gibt es ein Leben nach dem Erdöl?“ mit einem lauten touristenfreundlichen „Ja“ beantworten zu können. Inseln und Halbinseln entstehen in den „sympathischen“ Formen von „Palmen“ und der „Welt“ nach einer, unter streng kapitalistischen Gesichtspunkten, wohl überzeugenden Logik, dass wenn die profitabelste Lage für eine Immobile die Küstenlage ist, der maximale Profit im Grunde am schlüssigsten durch eine radikale Vervielfachung der Küstenlinie zu erreichen ist. Das wie von Kinderhand Gezeichnete ihrer Umrisslinie verschleiert jedoch das eigentlich Radikale dieser künstlichen Inseln – nämlich ihren Status als rechtsfreie Zonen aufgrund ihrer Extraterritorialität.
Wie der Fotograf Alex McLean können wir über die Konstruktion der amerikanischen Landschaft fliegen, über den ewig gleichen und nicht mehr enden wollenden Vorortteppich der amerikanischen Städte, bis alles nur noch vor einem Ort zu sein scheint, den es nie gab. Aus den Gated Communities ist ein globales sozial-räumliches Exportprodukt geworden, und das „Einschließen und Beschützen“ hat neben dem „Ausschließen und Aufheben der Rechte“ der weltweiten Auffang-, Zwischen- und Flüchtlingslager die alte römische Regel des „divide et impera „ (teile und herrsche) als Technologie der Macht ersetzt. Das Modell des Archipels (die miteinander verbundenen Inseln) und jenes der Enklave (die von allen anderen isolierte Insel) hat der Urbanist Alessandro Petti als (bis jetzt) letzte Konsequenz einer auf dem Paradigma der Sicherheit und Überwachung basierenden Raumordnung wahrgenommen. (siehe Alessandro Petti. Arcipelaghi e enclave. Architettura dell´ordinamento spaziale. Bruno Mondadori 2007)
In den Agglomerationen Südamerikas, Afrikas und Teilen Asiens sehen wir, neben und zwischen den städtischen Ordnungssystemen, die noch als Erbe der Kolonialisierungen gelten können, das massenhafte Auftauchen der räumlichen Manifestationen des Informellen, und in der apokalyptischen Beschreibung der Megastädte des 21. Jahrhunderts von Mike Davies in seinem „Planet of Slums“ sind die Städte der Zukunft nicht die Träume der Urbanisten aus Glas und Stahl, sondern das räumliche Konstrukt der mehr als 1 Milliarde Slumbewohner, die in ihren windschiefen Blech- und Kartonhütten mit Neid zurückblicken müssen auf den Lebenskomfort in den Lehmhäusern im antiken Catal Huyuk in Anatolien – erbaut vor 9000 Jahren.
Von hier oben sehen wir also die „Zementierungen“ von Macht, die materiellen Manifestationen von Produktionsverhältnissen, die eingeschrieben kulturellen Spuren und Konstruktionen von Landschaft, doch oft erkennen wir das Wesentliche – nicht.

Während wir uns festklammern am Suchen nach altbekannten Formen entdecken wir im Meer der totalen Urbanisierung nur noch als kleine Insel das, was wir einstmals Stadt genannt haben – die „Konfrontation mit dem verwandelten Bild der uns bewohnten Städte hat die Euphorie über die technische Errungenschaft der Satellitenfotos unversehens in ein erkenntnistheoretisches Trauma umschlagen lassen“, wie Stefano Boeri in seinem Essay „Eklektische Atlanten“ schreibt. Wir müssen neue Namen erfinden, für das, was sich vor und zwischen den alten Stadtstrukturen Europas ausgebreitet hat, was sich in sie hineingefressen hat und von innen aushöhlt. Die Welt ist eine andere geworden, auch dort, wo sie ihre ursprüngliche Form behielt. In den Erscheinungen des Chaos der Urbanisierung des 20. Jahrhunderts glauben wir wie einem Rorschachtest Muster und Formen zu erkennen, die mehr über uns aussagen, als über das, was wir wirklich vor unseren Augen haben.
Was sich nicht langfristig Einschreiben kann in den Raum, entgeht unserem Blick, und so bleiben wir blind gegenüber dem Wechsel der Software in der Hardware unserer stadtäumlichen Strukturen. Kein zenitaler Blick auf die abstrakte Geometrie Neapels entschlüsselt uns die Umnutzungen und temporären Schichtungen des Raumes auf der Grundlage der Ökonomie der Camorra, das Wechselspiel von Raum und Sozialem und die Überlagerungen der Fiktion des Kinos mit der Theatralität des Alltags, wie sie uns Roberto Saviano in „Gomorrha“ beschreibt. Der Backstage-Bereich der Tourismusindustrie bleibt uns ebenso verborgen wie die stetig wechselnden Notunterkünfte der Wanderarbeiter, mit deren Händen Dubais räumliche Performanz entsteht, wie die Korridore des Straßenstrichs, die die sich kontinuierlich verschiebenden Grenzzonen begleiten, und der sich stetig wechselnde und bewegende Eventraum von Konzerten und Raves. Die Intelligenz der Transformationen, Nischenbildungen und Umkodierungen des Raumes durch den neuen Blick der Migranten übersehen wir ebenso, wie uns deren tragischer Tod entgeht auf dem riesigen Friedhof, zu dem das Mittelmeer mit seiner Unzahl von gekenterten Flüchtlingsbooten geworden ist. All das Ephemere, Temporäre, Informelle, aus der Selbstorganisation Gewachsene und sich nicht im großen Maßstab materiell Manifestierende entzieht sich dem Verständnis und der Philosophie des Blickes aus der Distanz.
Um zu be-greifen und ver-stehen, müssen wir Hände und Füße bekommen, und eintauchen wie der Engel Damiel in Wim Wenders „Himmel über Berlin“ in das Labyrinth der Welt.
„Es geht nicht darum, Automobilsoziologie oder –psychologie zu betreiben. Es geht darum zu fahren, um mehr über diese Gesellschaft als durch alle wissenschaftlichen Disziplinen zu erfahren.“, schrieb Jean Baudrillard, kaufte sich ein Auto und machte sich auf zur Entdeckung Amerikas. (Jean Baudrillard. Amerika. Mathes+Seitz, S.78)
Als raum&designstrategien die Transformation des neuen Europas begreifen wollte, mietete es ein altes Steintransportschiff, verwandelte es in eine fahrende Universität und fuhr die Route66 Europas, die Donau, hinab zum Schwarzen Meer. Es waren nicht nur die eigenen Mental Maps, die ersetzt werden sollten auf dieser Reise, und es war der zu durchfahrende Raum, der Lehrmeister werden konnte und sollte für neue spezifische Werkzeuge, Strategien und Taktiken zum Verständnis einer sich in Veränderung begreifenden Welt. „Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form“ (Henri Lefebvre). Die von der Satellitenperspektive unsichtbaren Wesenszüge der Wirklichkeit sind eingeschrieben in den Praktiken des Alltags, im kulturell spezifischen Umgang und der Wahrnehmung der Potentiale des ein und desselben Raumes, in den das jeweilige Verhalten im öffentlichen Raum definierenden Codes, ohne deren Kenntnis wir immer „lost in translation“ bleiben werden.
Dem Studium des etablierten Wissens der diversen Disziplinen wird eine „theory through praxis“ zur Seite gestellt, bei der das Experiment der einzig mögliche Schritt zur Erfahrung der neuen Bedingungen der zeitgenössischen Raumes scheint, da es noch keine Gebrauchsanweisung für ihn gibt.
Von den Rändern her entwickelt sich ein neuer Diskurs, die Emergenz einer neuen Praxis, die sich aus den Erfahrungen der kulturellen Strategien und Taktiken einer metropolitanen Kultur zur Transformation der Wahrnehmung und des Handelns (z.B. vom Dadaismus über Situationismus zu Punk, Hacking und Cultural Jamming, um nur einen Strang des Stammbaums zu nennen) ebenso nährt wie aus den Errungenschaften der „Bastler in der Wüste“, den Protagonisten der kalifonischen Counterculture, und deren Fokus auf Werkzeuge. In der Vorwegnahme der Tatsache, dass das Mies van der Rohe´sche Diktum „Less is more“ weniger als ästhetisches Programm als das Paradigma unser gesamten technischen Revolution mit ihrer kontinuierlichen Verkleinerung und Potenzierung unserer elektronischen Geräte erfolgreich werden würde, konzentrierten sie sich auf Möglichkeiten, Individuen mit kleinen Werkzeugen und Wissen zur Veränderung der Welt auszustatten.
Neben dem Siegeszug von Ipods, Handys, Netbooks erkennen wir aber spätestens seit 9/11 an den Low-Tech-Produkten wie Tapetenmessern, Flüssigkeitsbehältern, Drahtknäueln, Rucksäcken, die mit ihrem „Drohpotential“ unsere Paranoia beflügeln, dass das „Ding“ wieder neben Strategie und Taktik in den sozialpolitischen Diskurs zurückgekehrt ist. (siehe dazu auch: Stephan Trüby: EXIT-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden, Springer Wien New York 2008, S.99)
Zwischen Experiment und den neuen Strategien zur Erfahrung des zeitgenössischen Raumes hinterlassen wir Spur um Spur im Materiellen, welche die „Augen der Götter“ zwar sehen, aber nicht begreifen können. Denn in einer Neuinterpretation des alten lateinischen Sprichworts liegt vielleicht der Schlüssel zu unserem Privileg: Errare humanum est – (Umher)irren ist menschlich.

Text
Michael Obrist

“Von göttlichen Augen und menschlichem Irren. Raumphänomene in Zeiten von Google Earth.”

In:
“food&grid. raum&designstrategien”
(Hrsg. Elsa Prochazka)
2009

Von göttlichen Augen und menschlichem Irren

Als Steward Brand, der später als Initiator und Herausgeber des „Whole Earth Catalogue“ nicht nur in der amerikanischen Gegenkultur zu großer Berühmtheit gelangte (Steve Jobs bezeichnete den Katalog als „Bibel seiner Generation“ und Vorläufer von Google im Paperback-Format), im Jahre 1966 Ansteck-Buttons mit der Aufschrift: „Why haven‘t we seen a photograph of the whole Earth yet?!“ produzierte und neben dem Verkauf derselben auch einen Teil davon an die Senatoren und wichtigsten Institutionen Amerikas und der damaligen Sowjetunion schickte, hatte er nichts geringeres als den Versuch einer globalen Bewusstseinsveränderung im Kopf.Buckminster Fuller hatte in seiner „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“ beschrieben, dass Inselbewohner eine sehr präzise Vorstellung von der Begrenztheit der Ressourcen ihres Lebensraumes hätten, und für Brand war das Veröffentlichen des Fotos der Erde, von der NASA vom Weltall aus geschossen, der Schlüssel zur Wahrnehmung unseres globalen Inseldaseins und somit ein Schritt der Menschheit in ihre Verantwortung als Teil eines gigantischen Ökosystems: laut Bucky sind wir alle Raumfahrer auf diesem fragilen blaue Planeten, umgeben von einem unendlich wirkenden Weltraum.
Für uns heutige Generation ist die Schlagkraft, die dieses Foto zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung hatte, nicht mehr in seiner Dimension begreifbar, es ist heute für jedermann, sofern installiert, in seiner alltäglichen Verfügbarkeit nur noch einen Mausklick entfernt: Es ist das Einstiegsbild zu Google Earth.
Von Steward Brands Forderung zur Erfindung von Google Earth war es kein kleiner Schritt, aber beide eint die Suche nach einem Werkzeug und einer Strategie zum Verständnis der Komplexität und Einheit der Welt. Doch während das erste Bild der Erde seine gesamte Wirkung sofort entfachen konnte und die Einheit des gesamten Biosystems Erde beim
Betrachten mit einem Mal bewusst wurde, beobachten wir bei Google Earth das umgekehrte Phänomen. Das kleine Bild dieses Globus auf unserem Bildschirm verschleiert die Ungeheuerlichkeit, dass das Programm einen großen Teil der Vielfalt hinter der Einheit am Ende aller Zoomstufen abbilden kann.
Alles, was menschliche Geschichte (mit Ausnahme der bemannten und unbemannten Raumfahrt) war, fand auf diesem Globus statt, und beinahe alles, was momentan auf diesem Globus einen materiellen Abdruck bestimmter Größe hinterlässt, ist – sofern es von einem Satelliten und seinem Zoom erfasst werden kann – auch auf Google Earth.

Wie kaum ein anderes Medium erlaubt es uns den Blick auf die Welt, der vormals den Göttern vorbehalten schien, ein Umstand, der die Gruppe The Glue Society zu ihrem Werk GOD´S EYE VIEW inspirierte, bei dem sie vier biblische Momente als Satellitenaufnahme in der Ästhetik von Google Earth darstellten: Den Garten Eden, die Arche Noah, Moses´s Teilung des Roten Meeres, die Kreuzigung von Jesus Christus. Doch der Blick von oben ist ein trügerischer; er erinnert an jenen entrückten Blick vom damals noch stehenden World Trade Center, den Michel de Certeau in seiner „Kunst des Handelns“ beschrieb: „Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse, die jede Identität von Produzenten oder Zuschauern mit sich fortreißt und verwischt. Als Ikarus dort oben über diesen Wassern kann er die Listen des Daedalus in jenen beweglichen und endlosen Labyrinthen vergessen. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt, die einen behexte und von der man „besessen“ war, in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Sonnenauge oder Blick eines Gottes zu sein. Der Überschwang eines skopischen oder gnostischen Triebes. Ausschließlich dieser Blickpunkt zu sein, das ist die Fiktion des Wissens.“ (Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Merve Verlag, S.180)

Medeis eisito ageometrikos. „Es trete niemand hier ein, der nicht der Geometrie kundig ist.“ soll der Leitspruch am Eingang von Platons Akademie gelautet haben, und mit dem Wissen der Geometer im platonischen Sinne können wir die Muster zu entziffern versuchen, die sich vor unseren Augen auftun.
Wir schauen auf China und sehen im welthistorischen Moment des Highspeed-Urbanismus die größte und schnellste Transformation von Millionen von agrarisch geschulten Landbewohnern zu in Fabriken arbeitenden Städtern im Namen des Staatsinteresses, und die bedingungslose Adaption von Formen der Avantgarde der Architektur und des Städtebaus des 20. Jahrhunderts ohne ihren vormals gesellschaftskritischen Inhalt. Bereits aus der Ferne sehen wir Dubais enorme Anstrengungen, um die Frage „Gibt es ein Leben nach dem Erdöl?“ mit einem lauten touristenfreundlichen „Ja“ beantworten zu können. Inseln und Halbinseln entstehen in den „sympathischen“ Formen von „Palmen“ und der „Welt“ nach einer, unter streng kapitalistischen Gesichtspunkten, wohl überzeugenden Logik, dass wenn die profitabelste Lage für eine Immobile die Küstenlage ist, der maximale Profit im Grunde am schlüssigsten durch eine radikale Vervielfachung der Küstenlinie zu erreichen ist. Das wie von Kinderhand Gezeichnete ihrer Umrisslinie verschleiert jedoch das eigentlich Radikale dieser künstlichen Inseln – nämlich ihren Status als rechtsfreie Zonen aufgrund ihrer Extraterritorialität.
Wie der Fotograf Alex McLean können wir über die Konstruktion der amerikanischen Landschaft fliegen, über den ewig gleichen und nicht mehr enden wollenden Vorortteppich der amerikanischen Städte, bis alles nur noch vor einem Ort zu sein scheint, den es nie gab. Aus den Gated Communities ist ein globales sozial-räumliches Exportprodukt geworden, und das „Einschließen und Beschützen“ hat neben dem „Ausschließen und Aufheben der Rechte“ der weltweiten Auffang-, Zwischen- und Flüchtlingslager die alte römische Regel des „divide et impera „ (teile und herrsche) als Technologie der Macht ersetzt. Das Modell des Archipels (die miteinander verbundenen Inseln) und jenes der Enklave (die von allen anderen isolierte Insel) hat der Urbanist Alessandro Petti als (bis jetzt) letzte Konsequenz einer auf dem Paradigma der Sicherheit und Überwachung basierenden Raumordnung wahrgenommen. (siehe Alessandro Petti. Arcipelaghi e enclave. Architettura dell´ordinamento spaziale. Bruno Mondadori 2007)
In den Agglomerationen Südamerikas, Afrikas und Teilen Asiens sehen wir, neben und zwischen den städtischen Ordnungssystemen, die noch als Erbe der Kolonialisierungen gelten können, das massenhafte Auftauchen der räumlichen Manifestationen des Informellen, und in der apokalyptischen Beschreibung der Megastädte des 21. Jahrhunderts von Mike Davies in seinem „Planet of Slums“ sind die Städte der Zukunft nicht die Träume der Urbanisten aus Glas und Stahl, sondern das räumliche Konstrukt der mehr als 1 Milliarde Slumbewohner, die in ihren windschiefen Blech- und Kartonhütten mit Neid zurückblicken müssen auf den Lebenskomfort in den Lehmhäusern im antiken Catal Huyuk in Anatolien – erbaut vor 9000 Jahren.
Von hier oben sehen wir also die „Zementierungen“ von Macht, die materiellen Manifestationen von Produktionsverhältnissen, die eingeschrieben kulturellen Spuren und Konstruktionen von Landschaft, doch oft erkennen wir das Wesentliche – nicht.

Während wir uns festklammern am Suchen nach altbekannten Formen entdecken wir im Meer der totalen Urbanisierung nur noch als kleine Insel das, was wir einstmals Stadt genannt haben – die „Konfrontation mit dem verwandelten Bild der uns bewohnten Städte hat die Euphorie über die technische Errungenschaft der Satellitenfotos unversehens in ein erkenntnistheoretisches Trauma umschlagen lassen“, wie Stefano Boeri in seinem Essay „Eklektische Atlanten“ schreibt. Wir müssen neue Namen erfinden, für das, was sich vor und zwischen den alten Stadtstrukturen Europas ausgebreitet hat, was sich in sie hineingefressen hat und von innen aushöhlt. Die Welt ist eine andere geworden, auch dort, wo sie ihre ursprüngliche Form behielt. In den Erscheinungen des Chaos der Urbanisierung des 20. Jahrhunderts glauben wir wie einem Rorschachtest Muster und Formen zu erkennen, die mehr über uns aussagen, als über das, was wir wirklich vor unseren Augen haben.
Was sich nicht langfristig Einschreiben kann in den Raum, entgeht unserem Blick, und so bleiben wir blind gegenüber dem Wechsel der Software in der Hardware unserer stadtäumlichen Strukturen. Kein zenitaler Blick auf die abstrakte Geometrie Neapels entschlüsselt uns die Umnutzungen und temporären Schichtungen des Raumes auf der Grundlage der Ökonomie der Camorra, das Wechselspiel von Raum und Sozialem und die Überlagerungen der Fiktion des Kinos mit der Theatralität des Alltags, wie sie uns Roberto Saviano in „Gomorrha“ beschreibt. Der Backstage-Bereich der Tourismusindustrie bleibt uns ebenso verborgen wie die stetig wechselnden Notunterkünfte der Wanderarbeiter, mit deren Händen Dubais räumliche Performanz entsteht, wie die Korridore des Straßenstrichs, die die sich kontinuierlich verschiebenden Grenzzonen begleiten, und der sich stetig wechselnde und bewegende Eventraum von Konzerten und Raves. Die Intelligenz der Transformationen, Nischenbildungen und Umkodierungen des Raumes durch den neuen Blick der Migranten übersehen wir ebenso, wie uns deren tragischer Tod entgeht auf dem riesigen Friedhof, zu dem das Mittelmeer mit seiner Unzahl von gekenterten Flüchtlingsbooten geworden ist. All das Ephemere, Temporäre, Informelle, aus der Selbstorganisation Gewachsene und sich nicht im großen Maßstab materiell Manifestierende entzieht sich dem Verständnis und der Philosophie des Blickes aus der Distanz.
Um zu be-greifen und ver-stehen, müssen wir Hände und Füße bekommen, und eintauchen wie der Engel Damiel in Wim Wenders „Himmel über Berlin“ in das Labyrinth der Welt.
„Es geht nicht darum, Automobilsoziologie oder –psychologie zu betreiben. Es geht darum zu fahren, um mehr über diese Gesellschaft als durch alle wissenschaftlichen Disziplinen zu erfahren.“, schrieb Jean Baudrillard, kaufte sich ein Auto und machte sich auf zur Entdeckung Amerikas. (Jean Baudrillard. Amerika. Mathes+Seitz, S.78)
Als raum&designstrategien die Transformation des neuen Europas begreifen wollte, mietete es ein altes Steintransportschiff, verwandelte es in eine fahrende Universität und fuhr die Route66 Europas, die Donau, hinab zum Schwarzen Meer. Es waren nicht nur die eigenen Mental Maps, die ersetzt werden sollten auf dieser Reise, und es war der zu durchfahrende Raum, der Lehrmeister werden konnte und sollte für neue spezifische Werkzeuge, Strategien und Taktiken zum Verständnis einer sich in Veränderung begreifenden Welt. „Der Raum ist kein Gegenstand, er ist eine soziale Form“ (Henri Lefebvre). Die von der Satellitenperspektive unsichtbaren Wesenszüge der Wirklichkeit sind eingeschrieben in den Praktiken des Alltags, im kulturell spezifischen Umgang und der Wahrnehmung der Potentiale des ein und desselben Raumes, in den das jeweilige Verhalten im öffentlichen Raum definierenden Codes, ohne deren Kenntnis wir immer „lost in translation“ bleiben werden.
Dem Studium des etablierten Wissens der diversen Disziplinen wird eine „theory through praxis“ zur Seite gestellt, bei der das Experiment der einzig mögliche Schritt zur Erfahrung der neuen Bedingungen der zeitgenössischen Raumes scheint, da es noch keine Gebrauchsanweisung für ihn gibt.
Von den Rändern her entwickelt sich ein neuer Diskurs, die Emergenz einer neuen Praxis, die sich aus den Erfahrungen der kulturellen Strategien und Taktiken einer metropolitanen Kultur zur Transformation der Wahrnehmung und des Handelns (z.B. vom Dadaismus über Situationismus zu Punk, Hacking und Cultural Jamming, um nur einen Strang des Stammbaums zu nennen) ebenso nährt wie aus den Errungenschaften der „Bastler in der Wüste“, den Protagonisten der kalifonischen Counterculture, und deren Fokus auf Werkzeuge. In der Vorwegnahme der Tatsache, dass das Mies van der Rohe´sche Diktum „Less is more“ weniger als ästhetisches Programm als das Paradigma unser gesamten technischen Revolution mit ihrer kontinuierlichen Verkleinerung und Potenzierung unserer elektronischen Geräte erfolgreich werden würde, konzentrierten sie sich auf Möglichkeiten, Individuen mit kleinen Werkzeugen und Wissen zur Veränderung der Welt auszustatten.
Neben dem Siegeszug von Ipods, Handys, Netbooks erkennen wir aber spätestens seit 9/11 an den Low-Tech-Produkten wie Tapetenmessern, Flüssigkeitsbehältern, Drahtknäueln, Rucksäcken, die mit ihrem „Drohpotential“ unsere Paranoia beflügeln, dass das „Ding“ wieder neben Strategie und Taktik in den sozialpolitischen Diskurs zurückgekehrt ist. (siehe dazu auch: Stephan Trüby: EXIT-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden, Springer Wien New York 2008, S.99)
Zwischen Experiment und den neuen Strategien zur Erfahrung des zeitgenössischen Raumes hinterlassen wir Spur um Spur im Materiellen, welche die „Augen der Götter“ zwar sehen, aber nicht begreifen können. Denn in einer Neuinterpretation des alten lateinischen Sprichworts liegt vielleicht der Schlüssel zu unserem Privileg: Errare humanum est – (Umher)irren ist menschlich.

Text
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Tochter:Nein, das wäre unordentlich.
Vater: Was ist mit der anderen Seite des Regals, hier? So etwa?
Tochter: Nein, da gehört er nicht hin, und überhaupt müsste er gerade stehen, nicht so schief,wie du ihn hingestellt hast.
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